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Quiet Quitting und die Humanisierung der Organisation

Mir sind in den letzten Monaten zwei Entwicklungen begegnet, die ich mit der Gestaltung der wechselseitigen Erwartungen zwischen Organisation und ihren Mitgliedern zusammenhängen. Beide ergänzen sich spannend aus ihrer jeweiligen Perspektive. Die zwei Entwicklungen sind die durch die soziologische Systemtheorie geprägte Sicht auf Organisationen und quiet quitting. Mein Eindruck ist, dass diese Entwicklungen einerseits Ergebnis einer Enttäuschung von überzogenen Erwartungen sind. Zum anderen sehe ich darin die Chance, dass sich Organisation und Menschen mit realistischeren und weniger aufgeladenen Erwartungen produktiv begegnen können.

 

Die Seite der Organisation - Die Humanisierung der Organisation

 

Sie soziologische Systemtheorie und ihre Sicht auf Organisationen wird aktuell besonders pointiert im Buch „Die Humanisierung der Organisation“ von Kai Matthiesen, Judith Muster und Peter Laudenbach, aber auch in den Büchern von Stefan Kühl und dem Podcast „Der ganz formale Wahnsinn“ dargestellt. Der Erfolg dieser Formate und die vielfältigen Diskussionen darum herum (z.B. hier bei Linkedin) zeigen, dass diese Sicht auf Organisationen zumindest bei vielen Menschen derzeit anschlussfähig ist. Auch wenn das Aufgreifen der Thesen manchmal mittels kritischer Auseinandersetzung stattfindet. 

 

Eine wesentliche Grundlage dieses Organisationsverständnisses ist die Trennung von Rolle und Person in Organisationen.

 

Die Organisation soll dem Menschen gerecht werden, indem sie ihn lediglich in seiner beruflichen Funktion, in seinen formalen Pflichten als Mitglied der Organisation in Anspruch nimmt. Alles andere, die Person, der »Großteil seines Wesens«, geht sie nichts an. [1]

 

Die Autor:innen legen sehr klug dar, wieso diese Sicht den Menschen schützt, auch wenn sie erstmal ungewohnt und gar un-menschlich wirken mag. Besonders zeigen sie, wie Organisationen ihre Strukturprobleme auf Menschen übertragen, die diese aber gar nicht lösen können. Hier erlebe ich viel Zustimmung. Denn viele Kolleginnen und Kollegen auf Berater:innenseite erleben ebenso wie viele Gestaltende in Organisationen, dass die Fixierung auf den Menschen inkl. zugehöriger Mindsets, Purposes und überzogenen Erwartungen an vermeintliche Lichtgestalten gleichzeitig anstrengend und wenig wirkungsvoll ist. 

 

Außerdem erleben Verantwortliche in Organisationen, dass die Einladung „den ganzen Menschen“ mitzubringen bewirkt, dass dann auch manchmal der ganze Mensch kommt. In einigen Kundenorganisationen sehen wir dann (trotz ehrlichem Willen!) nicht mehr lösbare Erwartungen und Fragestellungen, die tief in das Privatleben der Menschen reichen. Diese Verantwortung kann man dann ja gerade nicht mehr mit Verweis darauf, dass dies nicht Sache der Organisation sei, zurückweisen. Das ist also die erste Entwicklung: Dass nach dem Versuch Organisationen ganzheitlich, auf den Menschen und seine Bedürfnisse ausgerichtet zu gestalten, ein vielleicht desillusionierter, aber realistischerer Blick auf Organisationen wieder an Bedeutung gewinnt.

 

Quiet Quitting - Die Seite der Menschen

 

Die Menschen, die quiet quitting anwenden,

ziehen für sich also schlicht die Grenze zwischen formaler

Mitgliedsrolle und dem Rest ihrer Person, auf den die

Organisation keinen Zugriff hat, es scheinbar aber doch immer wieder versucht.

 

Nun ist es aber nicht nur für die Gestaltung von Organisationen auf lange Sicht dysfunktional, wenn sie auf ihre Mitglieder unerfüllbare Problemlösungserwartungen projizieren. Das gleiche gilt auch andersherum. Klaus Eidenschink hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies nur die eine Seite der Medaille, bzw. der strukturellen Kopplung ist. Denn auch „Menschen reduzieren die Organisationen [...] zu Projektionsflächen ihrer Erwartungen.“ [2]

 

Du bist nicht Dein Job

 

Auf der anderen Seite der Kopplung zwischen Mensch und Organisation setzt die Entwicklung des „quiet quitting“ ein. Diese wurde erst auf TikTok relevant und zur Zeit breit in den Medien diskutiert. [3]

 

Man kann quiet quitting als innere Kündigung oder Dienst nach Vorschrift missinterpretierten, wird dem Phänomen damit aber nicht gerecht. Denn aus meiner Sicht zeigt sich hier eine vergleichbare Entwicklung, wie die oben für Organisationen dargestellte. Nur eben auf Seiten der Menschen. 

 

Nach einer Phase von übersteigerten Erwartungen an Sinngebung und Bedürfniserfüllung seitens der Menschen an die Organisation und verbunden mit der Aufheben der Trennung von Mitgliedsrolle und ganzer Person, tritt auch auf Seiten der Menschen eine weniger illusorische und idealistische, aber realistische Sicht auf das ein, was eine Organisation leisten kann. Gleichzeitig werden übermäßige Erwartungen konsequent zurückgewiesen.

 

“Quiet Quitting bedeutet sich von der Idee und Vorstellung zu verabschieden,

dass ich als Arbeitende übers Limit hinaus gehe,

Überstunden und Extra-Arbeit mache,

die vertraglich gar nicht von mir verlangt werden” [4]

 

An anderer Stelle wird dies so zusammengefasst „Du bist nicht dein Job“ (Trennung von Rolle und Person!) und Quiet Quitting als Akt der Selbstfürsorge [5]. Die Menschen, die diesem Trend folgen, ziehen für sich also schlicht die Grenze zwischen formaler Mitgliedsrolle und dem Rest ihrer Person, auf den die Organisation keinen Zugriff hat, es scheinbar aber doch immer wieder versucht. 

 

Und genau diese doppelte Schutzfunktion für Organisation und Menschen gleichzeitig meint Stefan Kühl, wenn er von „wechselseitiger produktiver Ignoranz […] durch die Reduktion auf die Organisationsmitgliedschaft und das Ausklammern aller anderen sozialen Bezüge“ spricht. [6]

 

Nun folgt auch auf das Quiet Quitting Phänomen erwartbare Reaktionen. „Irgendwie traurig“ [7] fand ich eine gute Zusammenfassung der Meinungen. Es ist die gleiche Enttäuschung wie auf Seiten der Organisation. Soll Arbeit nicht mehr sein? Darf ich nicht Erfüllung erwarten? 

 

Die Enttäuschung ist nachvollziehbar, aber eine Chance. Und zwar: Weniger Grenzverletzungen und Überlastung auf beiden Seiten. Wenn Organisationen aufhören ihren Mitgliedern unrealistische Lösungserwartungen für die eigenen Strukturprobleme anzuhängen und auf der Gegenseite Menschen aufhören an Organisationen unrealistische Erwartungen der persönlichen Sinngebung und Lebenserfüllung zu stellen, dann können sich beide auf Augenhöhe begegnen. Vielleicht ist die Ebene der Begegnung zunächst weniger idealistisch und klingt weniger romantisch. Aber gerade aus romantischen Beziehungen weiß man ja, dass unrealistische Erwartungen an Andere bezüglich des eigenen Glücks, Erfüllung von Sinn und sonstigen Rettungsphantasien in der Regel enttäuscht werden müssen. Lasst uns also einfach ein bisschen realistischer sein. 

 

 

Diesen Artikel schrieb:

Florian Zapp